Cover
Titel
Intimate Empire. The Mansurov Family in Russia and the Orthodox East, 1855–1936


Autor(en)
Winning, Alexa von
Reihe
Oxford Studies in Modern European History
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 219 S.
Preis
$ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Tondera, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Lektüre von Alexa von Winnings „Intimate Empire“ erinnert daran, warum die Adelsfamilien des russländischen Reichs ein beliebtes Sujet der Literatur des 19. Jahrhunderts darstellten: Die von ihr rekonstruierte Geschichte der Mansurovs umfasst mondäne und weit verstreute Handlungsorte, dramatische Wendungen sowie Intrigen und Machtspiele, die bis an den Petersburger Zarenhof reichten. Dabei könnte von Winnings Text kaum weiter von den ausschweifenden Familiensagas des „Russischen Realismus“ entfernt sein: Geerdet durch die theoretischen Grundlagen der neuen Biografik betrachtet sie die Mitglieder der Adelsfamilie aus einer analytisch-distanzierten Perspektive als „imperial agents“. Als funktional ausdifferenziertes Kollektiv, so die Kernthese von Winnings, gelang es den Mansurovs, die sie umgebenden gesellschaftspolitischen Strukturen auf ideale Weise zu ihrem Vorteil zu nutzen. Umgekehrt profitierte die Autokratie von den emsigen Aktivitäten der Familie, die auf eine symbolische und faktische Machtausweitung des Zarenreiches über die bestehenden Grenzen hinweg abzielten.1 Während diese symbiotische Beziehung in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts die verschiedenen politischen Krisen weitgehend unbeschadet überstand, setzte die Oktoberrevolution von 1917 nicht nur der Romanov-Dynastie, sondern auch der Erfolgsgeschichte der Mansurovs ein jähes Ende.

„Intimate Empire“ nimmt insgesamt vier Generationen des Adelsgeschlechts in den Blick, dessen Angehörige bereits seit dem 16. Jahrhundert in Diensten des Zaren standen. Der Hauptfokus liegt dabei auf Boris (1826–1910) sowie dessen Kindern Pavel (1860–1932), Ekaterina (1861–1926) und Natalia (1868–1934). Die größte Prominenz unter den vier Familienmitgliedern erlangte Boris, der es bis zum äußerst selten verliehenen zweithöchsten zivilen Dienstrang des „Wirklichen Geheimrats“ brachte. Katalysator dieser illustren Karriere war seine Rolle als Leiter der Krankenhausverwaltung für das Marineministerium in Sewastopol in der Endphase des Krimkrieges von 1855–56. Sehr überzeugend verdeutlicht von Winning im ersten Kapitel ihres Buches, wie Boris Mansurov in dieser Phase – weitab des imperialen Machtzentrums in der Ausnahmesituation des militärischen Konflikts – durch organisatorisches Geschick, ein enges Verhältnis zu den Vorgesetzten und insbesondere die Unterstützung seines Bruders Nikolai (1830–1911) zu einer prominenten Figur in höheren Gesellschaftskreisen avancierte. Als populärer Kriegsberichterstatter trug Boris Mansurov zudem zu einer Einbeziehung der russländischen Öffentlichkeit in das Geschehen auf der Krim bei und sorgte für eine transparentere Außendarstellung der imperialen Streitkräfte. Nikolai rührte währenddessen in der Hauptstadt eifrig die Werbetrommel für seinen Bruder und sorgte dafür, dass dieser in einflussreichen Kreisen im Gespräch blieb. Auf diese Weise erlangte Boris zum Ende des Krieges „celebrity status“ (S. 52). Beim Besuch des Zaren auf der Krim im Herbst 1855 zählte er zu dessen regelmäßigen Gästen und spielte mit dessen Bruder, Großfürst Konstantin Nikolaevič, bei Abendgesellschaften vierhändig am Klavier.

In dem Kapitel über Boris Mansurov kommt von Winnings titelgebendes Konzept der „utility of family intimacy“ (S. 3) zur Geltung. Hier tritt die Familie als idealisierter Sehnsuchtsort, emotionaler Rückhalt, soziales Kapital und vor allem als gut funktionierende Arbeitsgemeinschaft mit klarer Rollenverteilung in Erscheinung. Nur das Zusammenspiel all dieser Elemente erlaubte es Boris, gesellschaftlich wie beruflich zu reüssieren.

In den folgenden Kapiteln tritt die familiäre Intimität der Mansurovs allerdings weitgehend in den Hintergrund. Stattdessen kommt ein weiteres Hauptmotiv des Buches zum Tragen: das „religious empire building“ (S. 53). Alexa von Winning beschreibt detailliert, kenntnisreich und mit beeindruckendem Überblick über relevante Forschungskontexte, wie Boris Mansurov in Jerusalem der frühen 1860er-Jahre im Auftrag von Konstantin Nikolaevič Bemühungen unternahm, den russisch-orthodoxen Einfluss in Palästina durch die Errichtung eines Wallfahrtsortes zu stärken. Zwei Jahrzehnte später schloss Pavel Mansurov als Botschafter in Konstantinopel an die Bemühungen seines Vaters an; als Gründer des Russischen Archäologischen Instituts in der osmanischen Hauptstadt 1894 setzte er darüber hinaus seinen eigenen Akzent in Hinblick auf die Ausweitung des kulturellen Einflusses des Zarenreiches am Bosporus.

Den Einfluss der russischen Orthodoxie innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen zu stärken, war allen Mitgliedern der Mansurov-Familie ein Anliegen. Die Begründung und Umsetzung dieses Vorhabens unterschied sich jedoch deutlich: Während Boris' Engagement für die Pan-Orthodoxie von Kooperation zwischen den unterschiedlichen orthodoxen Strömungen geprägt war, setzte Pavel klar auf die Führungsrolle des Zarenreiches als alleinige Quelle für deren „Macht und Protektion“ (S. 103). Einen ganz eigenen Weg gingen die Schwestern von Pavel, Ekaterina und Natalia: 1894 ließen sie sich eine Tonsur schneiden und entschieden sich dafür, das neu errichtete Familienanwesen in Riga gegen eine Zelle in einem nahegelegenen Kloster einzutauschen. Mit diesem Schritt emanzipierten sich die Schwestern von der ihnen zugedachten Rolle innerhalb der Familie und widmeten sich stattdessen vollkommen ihrem eigenen religiös-imperialen Projekt, dem Ausbau der orthodoxen Präsenz im Baltikum. Gekrönt wurden diese Bemühungen mit dem Bau der Dreifaltigkeitskirche 1907 (Sviato-Troitskii Sobor), zu dem Zar Nikolaus II. höchstpersönlich 75.000 Rubel beisteuerte. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten laut von Winning Ekaterina und Natalia die Produktivität ihres Vaters und auch ihres Bruders überboten; sie hatten mehr Gebäude errichtet und verantworteten über mehr Personal als diese beiden (S. 139).

Auch nach der Revolution erwies sich der orthodoxe Glaube als Dreh- und Angelpunkt des Mansurov'schen Kosmos; nun allerdings nicht mehr als Teil einer staatlich geförderten imperial-religiösen Expansionsagenda, sondern im Gegenteil als marginale, klandestin ausgelebte Randexistenz unter den rauen antimonarchistischen und antiklerikalen Bedingungen der frühen Sowjetunion. So sehr die gesellschaftlichen Bedingungen des Zarenreiches die Mansurov-Familie beflügelt hatten, so tief und rapide war der Fall nach der Machtergreifung der Bolschewiki. Die beiden 1882 und 1890 geborenen Söhne von Pavel Mansurov hinterließen kaum Spuren in der Geschichte und starben früh.

Mit „Intimate Empire“ ist Alexa von Winning ein großer Wurf gelungen. Das Buch gibt dem Genre der historischen Familienbiografie zahlreiche innovative Impulse, verweist auf das komplexe, keineswegs reibungsfreie Verhältnis von Kirche und Autokratie im späten Zarenreich und weitet immer wieder den Blick über den russländisch-imperialen Tellerrand hinaus. Als Wermutstropfen ist lediglich zu vermerken, dass der knappe Umfang von etwa 200 Seiten es unvermeidlich macht, dass bestimmte Aspekte unterbeleuchtet bleiben. So hätte zum Beispiel eine eingehendere Beschäftigung mit privaten Quellen wie der familiären Korrespondenz kommunikative Strategien und autobiografische Narrative der Mansurov-Familie deutlicher gemacht.

Trotzdem: Wer mehr darüber lernen möchte, wer und was das Russische Reich zusammenhielt, bis es an seinen inneren Widersprüchen und äußeren Herausforderungen scheiterte, wird bei Alexa von Winning eine frische Perspektive finden. Der am Beispiel der Mansurova-Schwestern verdeutlichte Aspekt der female agency trägt darüber hinaus zu einer willkommenen Weitung des Verständnisses der Gestaltungsspielräume gesellschaftlicher Akteurinnen in der imperialen Spätphase bei.

Anmerkung:
1 Der Fokus auf elitäre Familien als erfolgreiche grenzüberschreitende Akteursgruppen innerhalb von (post-)imperialen Strukturen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hat sich in den letzten Jahren als ergiebiges Forschungsfeld erwiesen. Die Tatsache, dass es durch das Aufrechterhalten kommunikativer Strukturen einigen privilegierten Familien gelang, strategische Mobilität, identitätsstiftende Rituale, Hierarchien und funktionale Ausdifferenzierung unter den besonderen Bedingungen moderner Großreiche zu prosperieren, verrät viel darüber, wer und was Imperien im Inneren zusammenhielt und wie diese Loyalität belohnt wurde. Familien erscheinen dabei weniger als stabile biologische Abstammungsgemeinschaften denn als fragile, sich stets im Wandel befindende narrative Konstrukte. Vgl. etwa David W. Sabean, German International Families in the Nineteenth Cenutry. The Siemens Family as a Thought Experiment, in: Christopher H. Johnson u.a. (Hrsg.), Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond. Experiences since the Middle Ages, New York 2011, S. 229–252; Barbara Henning, Narratives of the History of the Ottoman-Kurdish Bedirhani Family in Imperial and Post-imperial Contexts. Continuities and Changes, Bamberg 2018; Verena Dohrn, Die Kahans aus Baku. Eine Familienbiographie, Göttingen 2018; Eva-Marie Kröller, Writing the Empire. The McIlwraiths, 1853–1948, Toronto 2021.